Die Mauer als Fluchtursache

Wie eine Mauer Neugierde weckt auf das Unerreichbare dahinter und so zur Fluchtursache für Menschen wird, die den grausamen Weg übers Mittelmeer wählen. Und warum diese Reisenden in Europa dann in die Illegalität abrutschen. Das war das Thema der kleinen Schauspielszenen, die uns Riadh Ben Ammar während des Rückkehrseminars darbot.

Riadh Ben Ammar wirft ein neues Licht auf die Diskussion zur Fluchtursache.
Riadh Ben Ammar arbeitet bei seinem Ein-Mann-Theater bloß mit Dialogszenen und seinem Schatten. Requisiten braucht er keine.

Riadh Ben Ammar stammt selbst aus Tunesien und engagiert sich mit seinem „Theater für Bewegungsfreiheit“ (siehe Stiftung :do und æ act) für das Reiserecht von Tunesiern in Europa. Mit sehr eindrucksvollen kleinen Dialog-Szenen schildert er seine Sicht auf das Thema: Dass diese Grenze, die für Tunesier zwischen ihrem Land und Europa liegt, die eigentliche Fluchtursache, die eigentliche Motivation zum Reisen sei.

Ein Gedanke, den ich so interessant fand, dass ich darüber gerne schreiben wollte. Ich beschreibe hier den Weg, den Riadhs beispielhafter Tunesier Sami auf seiner Reise nahm.

Samis Weg nach Europa

Das Visum

An tunesischen Stränden tummeln sich europäische Touristen. Sie haben Geld, leben im Wohlstand und können sich leisten, sich in der Sonne zu fläzen. Und vor allem: sie dürfen es! Sie können in einen Flieger steigen, bekommen ein Visum und können andere Länder nach Belieben bereisen.
Sami hat ebenfalls das Bedürfnis, die Küste jenseits des Mittelmeeres kennen zu lernen.

Doch er versucht fünf Jahre lang vergeblich, ein Visum zu bekommen. Während dieser Zeit fahren seine Freunde nach und nach auf das Meer hinaus. Wenige von ihnen melden sich nach Tagen, dass sie es geschafft hätten. – Zuhause bleiben viele Mütter zurück, die vergeblich hoffend noch Monate lang auf ein Lebenszeichen ihrer Söhne und Töchter warten.
Fünf Jahre lang kämpft Sami mit sich und seiner Familie, ob er es versuchen sollte. Dann kauft er sich ein Visum für 1800 Euro, es ist vier Tage gültig. Wie soll sich jemand in vier Tagen einen Eindruck von Europa verschaffen?

Riadh hat Verwandtschaft in Norwegen, so erzählt er später. Nicht einmal bis Norwegen kam er damals mit seinem vier-Tage-Visum.

Kriminalitätsgefährdung

Mangels eines gültigen Visums hält sich Sami illegal in Europa auf. Ein Ausweg ist die Beantragung von Asyl – doch das führt zu Aufenthalten in Asylantenheimen. Nicht dazu, dass er das Grün und die Vitalität der europäischen Flora bewundern, Städte bereisen kann. So organisiert er sich ein Zimmer zur Miete. Das Geld für die Miete zu erwirtschaften, ist ohne Arbeitserlaubnis ein Ding der Unmöglichkeit. Die ersten Tage leiht er sich Geld bei Landsleuten, dann muss er seinen Weg finden.

Immer wieder landet Sami im Knast. Er wollte nur Europa kennen lernen doch geht ein und aus in Gefängnissen.

Isolation

Je nach Art des Gelderwerbs kann sich Sami nun nicht mehr auf der Straße blicken lassen, verbringt sein Leben in Sachsen in einer kleinen Gemeinschaft von Tunesiern, die alle beieinander wohnen.

Und immer wieder Anrufe von seiner Mutter aus Tunesien. Ob es ihm gut ginge, er es „geschafft“ hätte? Geschafft heißt, dass er eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung erhalten hätte. Was soll Sami ihr erzählen? Dass er es nicht einmal geschafft hat, Arbeit zu bekommen im reichen Deutschland? „Mutter, das läuft hier anders. Hier kann man nicht einfach arbeiten. Hier brauchst du für alles Papiere! …“ Sie hört ihm nicht zu, fragt, ob er denn so faul wäre. Wenn er seiner Mutter erzählte, dass er nun schon fünf Mal im Gefängnis war!

Riadh ergänzt hierzu später, dass seine Mutter ihn erst verstanden hätte, nachdem sie die Verwandtschaft in Norwegen hatte besuchen können. Das passt zu meinen Erlebnissen: Interkulturelles Verständnis ist unheimlich schwierig.

Zurück?

Zurückkehren nach Tunesien kann Sami nun auch nicht. Denn das Unverständnis für seinen Entschluss wäre zu groß in seinem Heimatland, seinem Dorf, in dem er lebte. Dorthin könnte er nicht zurückkehren. Dort wäre er, der Verlierer, gesellschaftlich isoliert. Und eine zweite Chance zu Reisen bekäme er nicht.

Fluchtursache…

So ist diese Mauer des Reiseprivilegs eine Ursache, die das natürliche Bedürfnis nach Reisen in unserer „globalisierten Welt“, wie sie gerne genannt wird, unheimlich groß werden lässt. So groß, dass sich viele Tunesier wie Sami auf den Weg machen, sie zu überwinden. Jenseits der Mauer spricht man dann von Fluchtursache. So beschreibt es die Geschichte von Sami, die uns Riadh erzählte.

Kulturbegegnung und Reiseerfahrungen

Doch neben dem Stillen der Neugierde bietet das Reisen auch die Möglichkeit zu persönlicher und gesellschaftlicher Entwicklung. Als Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung und Möglichkeit, seinen Horizont zu weiten und andere Kulturen zu erleben, kannst du mit der Fähigkeit zurückkehren, über deine eigene Kultur zu reflektieren. Weil du andere Lebensformen kennen gelernt hast. Weil du durch eine solche Reise einen sehr vielfältigen und andersartigen Erfahrungsschatz sammeln kannst, als dir das beständige Verharren in einem Kulturraum bieten kann. Deutschlands Regierung weiß um die Bedeutung solcher Erfahrungen und finanziert ganze Programme für Jugendliche. Ob der „Internationale Jugendfreiwilligendienst“ (IJFD), das „weltwärts“-Programm oder das Programm „Incoming“ – diese Programme bieten sowohl für den, der reist, als auch für diejenigen, die den Reisenden empfangen eine große Bereicherung, wie ich selbst erfahren durfte.

Riadhs Forderung nach „Recht auf Bewegungsfreiheit“ bezieht sich also nicht bloß auf das Recht für Urlaubsreisen. Sondern viel mehr auf den Entzug des Reiserechtes als Verweigerung der Entwicklung der Persönlichkeit durchs Reisen.

Das Riadhs Geschichte nicht für alle Immigranten gilt, ist verständlich. Mir jedoch gibt sie ein weiteres Argument in der Diskussion um Flüchtlinge und Fluchtursachen. Und sie zeigt an verschiedenen Stellen Probleme auf, deren Bedeutung ich selbst durch meinen Freiwilligendienst kennen lernen durfte.


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