Freiheit

Welch ein erhabenes Gefühl. Du kommst von einem arbeitsreichen Vormittag nach Hause. Es ist fast halb vier, als du vom Mittagstisch aufstehst und nun nicht weißt, was du tun sollst.
Ich lebe nun seit fast drei Monaten in Villa Carlos Paz, Argentinien. Doch auch wenn ich in dieser Zeit bereits einiges der argentinischen Sprache gelernt habe und mich redlich bemühe die Gegend kennen zu lernen, warten nun, nach dem Essen, keine Verpflichtungen auf mich.
Darüber möchte ich heute schreiben.

Freiheit, Gesellschaft und ein kolonialistisches Straßensystem
Columbia – Die Straße in der ich wohne.

Die ersten Wochen war dieses Gefühl am stärksten, aber auch jetzt noch, wenn der Tag und meine Laune hervorragend sind, fühlt es sich so an. Es ist wie Urlaub. Dass du morgens um kurz vor Sechs aus den Federn musst, ist nach dem Vormittag in der Schule vergessen. Zu viel Trubel, zu viele Menschen, die alle fröhlich und wohlgesonnen deinen Weg kreuzen. Und dann Nachmittags: nichts. Die Sonne scheint, ein leichter Wind der dir die 27° C nicht zu warm erscheinen lässt und du gehst zum Fluss, weil du weißt, dass du die Zeit hast.

Auf dem Weg, den ich überdies an jeder Kreuzung gerade aus dem Gefühl heraus wähle, wird mir bewusst, wie viel Druck, wie viele verschiedene Faktoren Daheim auf mich eingewirkt hatten. Ich gehe diesen Weg nicht zum ersten Mal, ich denke diese Gedanken nicht zum ersten Mal.

Ein paar Gedanken zur Gesellschaft

Es war doch mein Freundeskreis, meine Familie, mein Ort in dem ich mich dort bewegt habe. Warum kann ich mich hier freier fühlen?
Es hat wohl etwas mit Erwartungen zu tun, Erwartungen, die unsere Gesellschaft scheinbar an uns stellt. Eine andere Freiwillige sagte zu mir: „Hier brauche ich mich nicht schminken, weil sie nicht wissen, wie ich dann aussehe“; dass sie sich also nicht verstellen bräuchte, um Erwartungen zu erfüllen. Weil diese hier (noch) nicht vorhanden sind. Es ist wie eine frisch gefegte Bühne, auf der du deine Rolle ganz neu entfalten kannst.

Das ist doch traurig. Entweder ist es die Gesellschaft, die uns keine Freiräume zur persönlichen Veränderung einräumt, oder wir sind es selber, die nicht stark genug sind, uns innerhalb ihrer zu verändern. Ich möchte die Schuld auf keine der beiden Seiten schieben – aber um diesen Zustand zu ändern, sind wir gefragt. Um dies zu ändern, müssen wir uns gegen die Gesellschaft stellen. Das geht natürlich einfacher, wenn man den Wandel der Persönlichkeit in Ruhe, außerhalb dieser Einengung, vollführen kann und sich dann wieder in die bekannte Gesellschaft zurückbegibt.

Aus dieser Perspektive habe ich mit meinem Freiwilligenjahr den einfachen Weg gewählt. Aber für mich kommt so ja noch ein weiterer Faktor hinzu: die neuen Erfahrungen, die ich hier mache, und erst im Nachhinein meinen Freunden als Erzählung weitergeben kann. In einem Jahr entstehen gewaltige Unterschiede, was die zurückliegenden Erlebnisse betrifft. Daher bin ich gespannt, wie sich die ersten Begegnungen nach meiner Rückkehr anfühlen werden.

Beweglichkeit

Erlebt ein Block, wie ich eine in ihrer Größe begrenzte Gesellschaft gerade einmal bezeichnen möchte, über einen langen Zeitraum die selben Dinge, macht das diesen Block massiver. Ich möchte das Bild konkretisieren: Drücken Erfahrungen über viele Jahre hinweg von allen Seiten auf den Würfel, dann wird dieser komprimiert. Es entsteht ein Klotz, der in sich unbeweglich, starr, ja vermutlich im Laufe der Zeit spröde wird.

Eine Gesellschaft ohne differenzierte Erlebnisse wird zur Gefahr für sich selbst. Innerhalb ihrer geht ein Prozess verloren, den man mit Durchmischung oder Umgang mit Vielfalt beschreiben könnte. Ein Prozess, der jeden einzelnen Teilnehmer dieser Gruppe und diese als Ganzes befähigt, auf neuartige Impressionen, von außen drückende Erfahrungen, einzugehen und mit ihnen auf eine nützliche Weise umzugehen. Fehlt diese Eigenschaft wird der Block spröde, er kann äußeren Eindrücken nicht flexibel begegnen und wird in sich zerbröseln. Jeder einzelne kleine Brösel dieses Blockes ist unbeweglich, steinhart. Es fehlt die Verbindung zum nächsten Brösel, weil zwischen ihnen die Bewegung der äußeren Eindrücke besteht und reibt. Kommt nun jemand daher und kann ihnen allen, den Bröseln, eine Idee für alle unterbreiten, entsteht Radikalismus. Eine Idee, ein Ziel hält den Haufen der Brösel zusammen, der ohne diese eine Idee nicht existieren würde, weil er in dieser Umgebung der Eindrücke nicht überlebensfähig war und ist.

Zurück zu mir.

Natürlich kann man auch sagen, ich wäre noch nicht so richtig angekommen, hätte dann ja wohl noch nicht den Zugang zu den täglichen Aktivitäten gefunden, denen hier am Nachmittag nachgegangen wird. Das mag richtig sein. Ich spiele seit einiger Zeit in einem der Stadtorchester mit und bin dort mit Freude dabei. Für andere Aktivitäten fehlt es mir bisher aber leider an Sprachkenntnis, weil ausführliche Unterhaltungen schwierig sind und so gemeinsame Treffen schnell auf ihren aktiven Teil heruntergebrochen sind.
Aber ich hatte auch schon Treffen mit anderen Jugendlichen, um sich mal zu unterhalten. Diese Treffen sind für mein Spanischerlernen unheimlich wertvoll.

Doch diese Zeit ist auch unheimlich erholsam. Für mich, der ich mir keine Vorstellung davon machen kann, wie lang ein Jahr ist, und auch keine Beispiele nennen kann, die nicht davon zeugen, dass die Zeit viel zu schnell vergeht, ist es im Moment einfach spannend hier. Und in diesem Sinne tue ich, was ich die letzten neun Jahre jeden Schulmorgen vor mich hin gemurmelt habe: Ich schaue in die Welt.

Doch nun wird es langsam Zeit aus den wahrgenommenen Bildern einen Lebensweg zu formen.


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